Reisen heißt glücklich sein – oder?

Zweiter Weihnachtstag 2017 in Cali, Kolumbien. Seit drei Tagen schon sind wir in der Stadt des Salsa, haben ein ruhiges Weihnachten verbracht, uns durch das Café- und Kneipenviertel San Antonio gegessen und den Auftakt der Féria de Cali mit dem Sálsodromo erlebt.

Unser nächster Stop: San Agustin im Süden Kolumbiens. Wegen Weihnachten fährt nur ein einziger Bus abends um 19 Uhr, Tickets kann man nicht vorab reservieren, eine Stunde vorher am Terminal sein, das reicht. Scheinbar jedoch nicht an Weihnachten: „Der Bus ist ausgebucht. Heute geht kein anderer mehr nach San Agustin.“

Als ich mich auf die große Reise machte, Anfang Oktober mit mehr als drei Monaten Abenteuer voraus, allein im Flugzeug, der Backpack noch voller Dinge, die ich nicht brauche, war mein Herz groß vor Neugierde, frei von Erwartungen und voller Vorfreude auf neue Länder, neue Leute, neue Erlebnisse. Nichts und Niemand hätte mich aufhalten, meine Stimmung trüben oder mir gar die Vorfreude nehmen können. Die Reise bedeutet für mich glücklich sein, frei sein, zufrieden sein, für mich sein.

Zumeist klappt das auch recht gut. Ich habe die besten Menschen kennengelernt, bin mit ihnen kurz oder lang gereist, habe Freundschaften geschlossen, wunderbare Orte gesehen, großartige Parties gefeiert, perfekte Wellen gesurft, andere Kulturen entdeckt, Abenteuer erlebt. Wie es eben sein soll auf einer solchen Reise.

Doch es gibt sie auch auf meiner Reise, die Momente, in denen einem das Leben links und rechts voll eine verpasst. Momente, in denen man eben nicht glücklich ist, in denen man sich scheiße fühlt, allein und verzweifelt. In denen nichts funktioniert und selbst der ausgeklügeltste Plan sich in Luft auflöst. Momente, die man nicht im Foto festhalten möchte. Momente, in denen es auch ziemlich egal ist, dass man gerade eigentlich im Paradies ist und verdammt nochmal glücklich und zufrieden sein sollte.

Auslöser für solche Momente gibt es viele – kleine und große, die jedoch alle wie das Ende der Welt wirken können: Wenn man statt 10 Stunden mal eben 18 Stunden im Bus sitzt, fast einen Tag der so knappen Reisezeit verliert und viel zu wenig Essen eingepackt hat. Eine Nachricht von daheim, die die Vorstellungen vom ersten Wochenende in der Heimat durcheinander wirbelt. Die plötzliche Erkenntnis, dass die Reise viel zu früh ein Ende hat. Das Meer, das viel zu weit weg ist. Eine Nacht im Hostel, in dem nur Idioten mit dir das Zimmer teilen und eben diese dich dann nicht mal in Ruhe allein sein lassen. Wenn man den ganzen Tag lang nur zwei oder drei gute Wellen bekommen hat, den Rest der Zeit unter Wasser oder mit dem Surfboard am Kopf oder in den Rippen verbracht hat. Wenn plötzlich das Heimweh einkickt, man bei Menschen zuhause sein möchte, weil sie entweder gerade die Zeit ihres Lebens haben oder genau das Gegenteil und man für sie da sein mag. Oder wenn man einen Menschen ziehen lassen muss, weil man nun einmal auf Reisen ist und es nur in eine Richtung geht: Immer weiter.

Ich hab diese Momente alle durch. Was dagegen hilft, sind Menschen. Die guten Menschen, die man auf der Reise trifft, die dir zuhören, die mit dir trinken, die alles ein bisschen besser machen, oder die Menschen, die daheim auch mitten in der Nacht ein Ohr für dich ans Telefon halten, die dir ein Stück Geborgenheit durch den Messenger schicken und die so auch alles ein bisschen besser machen. Manchmal muss man den Tränen freien Lauf lassen, sich in seinem Bettlaken verkriechen oder eine stille Ecke im Hostel suchen und heulen bis man schon gar nicht mehr weiß, warum eigentlich. Manchmal ist Ablenkung die richtige Taktik und die Party am Abend, die Gemeinschaftsküche oder das Lagerfeuer am Strand mit den anderen Reisenden die Rettung für den Tag und die Stimmung. Manchmal hilft eine feste Umarmung und gute Musik. Das Meer sowieso. Und eine Portion Humor und Gelassenheit – auch wenn letztere nicht immer einfach aufzutreiben ist.

Nein, es ist nicht immer alles Glück auf einer Reise. Nicht alle Momente sind schön, nicht alle Erinnerungen positiv. Man kann hier die allseits bekannte Achterbahn der Gefühle heranziehen: Es gibt Höhenflüge, die das Paradies noch paradiesischer machen, das Gefühl, alles ist möglich und das ist gut so, und es gibt Tiefs, groß und tief wie die Schlaglöcher in den schier unendlichen Schotterpisten und Feldwegen Mittelamerikas. Manchmal ist so eine Reise einfach frustrierend, zermürbend und zum Verzweifeln. Aber das ist auch gut so. Jede Erfahrung, jede Herausforderung, die es zu meistern gilt, zeigt, dass es immer weitergeht. Man sucht nach Lösungen, nach Wegen damit umzugehen. Man wächst an jeder blöden Situation, durch die man hindurch muss, an jedem doofen Gefühl, das einen beschleicht. Und es geht immer weiter. Und dann kommen auch wieder die zahlreichen positiven, schönen, fabelhaften Momente der Reise zurück.

Und dann tanzt man Salsa im Regen, schwimmt im unverhofften Wasserfall, findet die perfekte Welle oder den einsamen Strand, guckt in einer kristallklaren Nacht in den Sternenhimmel, fährt im offenen Jeep und lässt die Haare im Wind fliegen und sammelt Erinnerungen wie andere Leute Briefmarken oder Feuerzeuge. Erinnerungen, die man ohne schlechte Momente vielleicht nicht gemacht hätte. Und irgendwie ist dann wieder alles gut.

Die Reise bedeutet für mich jetzt mehr denn zu Beginn Glück, Freiheit, Zufriedenheit – dazu kommen aber auch jede Menge andere Emotionen. „Reisen verändert Menschen“, hat Tobi unter meinen Weihnachtspost von Kolumbien geschrieben. Wie recht er hat. Und was diese Veränderungen hervorruft sind sicherlich nicht nur die positiven Erlebnisse. Auch, wenn ich sehr froh bin, dass diese bei weitem überwiegen.

Statt dem Bus nach San Agustin haben wir übrigens den Bus nach Neiva genommen – der statt 10 Stunden 18 Stunden unterwegs war. Doch wir sind angekommen, haben eine Nacht in der Hängematte in der Tatacoa-Wüste verbracht, den Sternenhimmel erkundet und marsähnliche Landschaften durchwandert. Und sind von dort aus weiter nach San Agustin. Hat sich wieder einmal gelohnt. Weiter geht’s.