„Verlust“ von Paul Harding erzählt genau von dem, was der Titel vorgibt: von Verlust, davon wie Charlie damit umgeht, wie er ihn zerstört und wie er abdriftet in eine eigene Welt. Während seine Frau mit Aktionismus gegen die Trauer anzukämpfen versucht, bleibt für Charlie einfach die Zeit und die ganze Welt stehen. Er beginnt Schmerztabletten zu nehmen, verwandelt sich in wandelndes Elend, stinkend, ungepflegt, heruntergekommen, und lebt mehr und mehr in der Vergangenheit und verliert dadurch nicht nur Kate, sondern auch seine Frau. Er denkt zurück an die Zeit mit seiner Tochter, aber auch an seine eigene Kindheit mit dem Großvater und an all die Geschichten, die er Kate von ihm erzählt hat. Er verliert sich in der Erinnerung und seiner Liebe der toten Tochter gegenüber, weil die Zukunft für sie und damit vermeintlich auch für ihn zerstört wurde.
Eben dieses Leben in der Vergangenheit und die damit einhergehenden vielen Kapitel, die von seinen Erinnerungen handeln, haben dazu geführt, dass ich „Verlust“ mehrfach abbrechen wollte. Das inaktive Vegetieren von Charlie, das Selbstmitleid und vor allem die Tatsache, dass er aufgibt, ohne überhaupt ernsthaft versucht zu haben, mit der Situation und dem Verlust klarzukommen, haben bei mir reines Unverständnis hervorgerufen. Wenn man eine solch innige Beziehung zu seiner Tochter hatte, ist der Gedanke, dass das eigene Leben sinnlos ist, wahrscheinlich alles andere als abwegig, dennoch wurde hier aber in der Umsetzung des Gedankens übertrieben, die Geschichte wurde langatmig und ich musste das Buch zeitweise weglegen. Der Fokus, der vor allem in der ersten Hälfte des Buchs auf die vergangenen Momente mit dem Großvater oder der Tochter gelegt wird, haben Charlies Probleme, an denen er noch arbeiten könnte, nämlich die Abhängigkeit und sein Verfall, in den Hintergrund gedrängt – und meine Geduld auf die Probe gestellt. Das Selbstmitleid von Charlie macht die Sache nicht besser – ebenso wenig wie die Tatsache, dass er ja weiß, dass es einen anderen Weg gibt, als in einer Art Schockstarre in der Vergangenheit zu leben.
Besser wurde es, als die Rückblenden weniger wurden, als sich „Verlust“ weniger um die Vergangenheit und mehr um die Reste seines Lebens gedreht hat. Alles in seinem Umfeld erinnert ihn an Kate, man spürt den Schmerz und die Wut und hin und wieder wird ihm auch seine Verwahrlosung bewusst. Es geht weniger um die Vergangenheit als viel mehr um seine Tablettensucht, die wirren Momente, die Halluzinationen und die Bilder, die daraus entstehen. Zeitweise blitzt hier auch ein ganz wunderbarer Schreibstil auf, bildhafte Sprache, beeindruckende Sprachbilder, die der Geschichte an anderer Stelle sicherlich gut getan hätte. Aber eben nur zeitweise.
Trotz dieses besseren zweiten Teils konnte mich „Verlust“ nicht überzeugen. Weder sprachlich noch inhaltlich war es für mich herausragend, die wenigen Lichtblicke, die vor allem Begegnungen mit dem „wahren“ Leben in Form von zwei Teenager-Mädels, einem Minimarkt-Besitzer oder dem kranken Nachbarn waren, waren nicht genug um mich mit dem Buch zu versöhnen. Von Paul Hardings Büchern werde ich in Zukunft wohl eher die Finger lassen.
Zwei ergänzende Anmerkungen zum Schluss:
Das Cover ist ganz großartig gewählt! Es passt hervorragend zur Stimmung, zum Thema und zu den Naturbeschreibungen, die in „Verlust“ recht häufig sind. Ein großes Lob an dieser Stelle an den Luchterhand Literaturverlag.
Das Buch ist der zweite Teil einer geplanten Trilogie, die Fortsetzung von „Tinkers“, in dem es um den Großvater von Charlie geht. Ich weiß nicht, ob mir „Verlust“ besser gefallen hätte, wenn ich Paul Hardings Debüt gelesen hätte. Ich hatte nicht das Gefühl, mir würden Informationen fehlen, da es eben nicht um den Großvater geht, sondern um Charlie. Klar, es gibt einige Stellen, bei denen ein Bezug zum Großvater und Charlies Erinnerungen mit ihm hergestellt werden, dennoch sind die Rückblenden in „Verlust“ so umfassend, dass man das Buch meiner Meinung nach auch ohne das Vorwissen von „Tinkers“ lesen kann (wenn man unbedingt will).