Wenn die Lesezeit knapp ist, ich gerade an einem sehr dicken Buch lese und zwischendurch eine andere Geschichte brauche oder auch wenn die dicken Bücher nicht in die Handtasche passen – es gibt Situationen, in denen ich gezielt zu dünnen Büchern greife. Dabei stehen die wenigen Seiten den dicken Wälzern meist in nichts nach. Egal ob Kurzgeschichten, Novelle oder Roman – oftmals sind es die komprimierten Wörter und Sätze, die es in sich haben. Vier Bücher unter 200 Seiten haben mich in letzter Zeit zum Nachdenken gebracht, beeindruckt oder zumindest nicht losgelassen.
„Alles ist jetzt“ von Julia Wolf
Weil Marina Nordbreze so sehr von „Alles ist jetzt“ geschwärmt hat, stand dieses Buch lange auf der Wunschliste. Mittlerweile wurde es Dank der Frankfurter Verlagsanstalt erlöst und verschlungen. Man könnte meinen, bei 160 Seiten dauert das nicht allzu lange. Einfach schnell weglesen lässt sich das Buch aber nicht.
Es geht um eine Mittzwanzigerin namens Ingrid, die irgendwie feststeckt zwischen dem Ende einer Beziehung, dem Träumen von ihrer Jugendliebe, dem Job in einer Livesexbar (von Marina gelernt, dass das so heißt!) und der geschiedenen Mutter, die mit nie fertiggestelltem Pool aber dafür viel Alkohol am Stadtrand wohnt. Doch nicht nur das Leben von Ingrid ist nicht sehr positiv, auch ihr Charakter ist keiner, den man sich zum Vorbild nehmen sollte. Verloren, traurig und allein würden die einen sagen. Selbstmitleidig, leer und antriebslos die anderen. Ingrid ist seltsam teilnahmslos, ohne Energie und ohne Interesse an der Welt um sie herum.
Dabei ist die Sprache von Julia Wolf alles andere als antriebslos und ohne Energie. Die Autorin schreibt kurz und prägnant, bringt die Dinge auf den Punkt und beschreibt mit wenigen Worten sehr viel. Das beeindruckt mich als Leser sehr und ich will mehr.
„Alles ist jetzt“ hat mich auf bizarre Art und Weise fasziniert. An manchen Stellen wollte ich am liebsten die Augen zusammenkneifen und hoffen, dass es ganz bald vorbei ist. An den gleichen Stellen hat sich besagte Faszination am meisten gezeigt. Ich mag es, Bücher zu lesen, die mich aus meiner Komfortzone herausholen, mir kaputte, negative und traurige Charaktere nahe bringen. Die Nähe und Sympathie zu Ingrid habe ich allerdings nicht gefunden.
Ihr seht mich also zwiegestalten ob dieses Debütromans. Es ist zweifelsohne ein sehr gutes Buch, aber zur restlose Begeisterung fehlt mir persönlich wohl eine Portion Optimismus in der Geschichte. Allzu schnell hat mich das Buch aber nicht losgelassen.
„Warten auf Bojangles“ von Olivier Bourdeaut
Hach, dieses Buch ist ein kleiner Goldschatz. „Warten auf Bojangles“ fasst etwa 170 Seiten, diese Seiten haben es aber in sich. Es wird die Geschichte eines Ehepaares erzählt, vorwiegend aus der Sicht deren Sohnes. Von Anfang bis Ende erfährt man von der verrückt-chaotischen Liebe der beiden, von Tanzabenden und Märchengeschichten, von Verrücktheiten und aberwitzigen Ideen. Die beiden machen sich ihr Leben, wie es ihnen gefällt und man kommt als Leser nicht umhin, völlig von den beiden in ihren Bann gezogen zu werden. Doch in die schon eher kitschige Geschichte platzt bitterer Ernst: Demenz. Von da an wird es noch exzessiver, noch wilder im Leben der beiden und ihren Sohn, doch die schlechten Momente fangen an zu überwiegen.
Die Geschichte ist verträumt, ein bisschen naiv, und hoffnungslos romantisch. Doch gleichzeitig ist sie stark, tragisch und traurig. Diese ganze Bandbreite an Gefühlen – negativ wie positiv – durchleben dabei nicht nur die Hauptpersonen, sondern auch die Leser. Man schmunzelt, man lacht und man muss vielleicht auch das eine oder andere Tränchen verdrücken.
In jedem Fall ist „Warten auf Bojangles“ ein Büchlein, das einen unbeschreiblichen Zauber in sich hat, etwas märchenhaftes und zartes, das aber gleichzeitig stark und eigenwillig ist. Ein bisschen wie die Romane von Mamen Sánchez, nur mit mehr Tiefgang.
„und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus“ von Doris Anselm
Ich als hoffnungslos romantisch-literarische Seele bin dem Titel dieses Erzählungsbandes vollkommen verfallen. „und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag aus“ – das zeigt schon, dass die Sprache außergewöhnlich ist. Doris Anselm, Gewinnerin des openmike 2014, schafft Sprachbilder, die eigentlich überhaupt nicht passen und irgendwie doch so treffend sind. Sie kombiniert Wörter so, dass sie direkt in mein Leserherz treffen.
Doch nicht nur der Titel, auch der Inhalt überzeugt – wenn auch nicht jede einzelne Geschichte. Sie erzählt leise von Veränderungen, Chancen, Neuanfang. Die Protagonisten in den Kurzgeschichten könnten dabei nicht unterschiedlicher sein, ebenso wenig die Geschichten. Ob es um die knisternde Anziehungskraft eines in die Jahre gekommenen Kioskbesitzers, das Erwachsenwerden eines Teenie-Mädels oder den Schrebergarten zweier Rentner-Ladies geht: Was am Anfang mit einem Stück Alltag beginnt, ist am Ende irgendwie ganz anders, es wurde ein Wandel vollzogen, eine Veränderung. Manche Veränderungen sind eher klein und leise, manche laut und mit großem Knall. Manche Geschichten sind distanzierter als andere, manche treffen genau auf den Punkt.
Man muss den Stil mögen, die schrägen Charaktere – bei mir hat das nicht immer funktioniert, aber doch meistens. Meine liebste Erzählung: „Pony und Poelchau“. Doris Anselm werde ich auf jeden Fall im Auge behalten.
„Das Ende von Eddy“ von Édouard Louis
Viel zu lange habe ich damit gewartet, diesen Roman von (sorry, geschummelt!) knapp über 200 Seiten zu lesen. 2015 erschienen, gammelte er auch seitdem in meinem Regal herum. Dass der spontane Griff ins Bücherregal oft der beste ist, wurde mir dann hier wieder einmal bewiesen.
In „Das Ende von Eddy“ erzählt der Jung-Autor Édouard Louis in Romanform von seiner Kindheit und Jugend im Hinterland Nordfrankreichs, von Gewalt und Hass, von den eingeengten und vorgeschriebenen Geschlechterrollen, von dem verzweifelten Versuch, so zu werden, wie er laut der Dorfgesellschaft sein muss: Er soll Frauen begehren, Fußball schauen, „ein echter Kerl“ sein. Er wird verprügelt, gedemütigt, gehasst – dafür, dass er homosexuell ist, einen eher weiblichen Gang hat, eben nicht in das Männerbild der homophoben Dorfbewohner und Mitschüler passt. Er ist der Sündenbock für alles, was im Entferntesten mit Homosexualität zu tun hat, auch wenn ganz andere Jungs im Holzschuppen gewisse Dinge (mit ihm) ausprobieren: „Das Verbrechen besteht nicht darin etwas zu tun, sondern etwas zu sein. Und vor allem auch so auszusehen.“ (S. 154)
Die Sprache der Eltern, der Brüder, der Dorfbewohner zeugt von Derbheit und Ungebildetheit. Sie sind abgestumpft und festgefahren. Was nicht in ihr Weltbild passt, ist schlecht. Die Wucht dieses Milieus, des Hasses und der Ungerechtigkeit habe ich als Leser sehr eindringlich wahrgenommen. Nicht mal die Gewalt, eher das fehlende Verständnis war es, das bei mir so etwas wie Mitgefühl mit Eddy hervorrief. Kein wirklich Mitgefühl deshalb, weil er selbst nicht wirklich tolerant ist. Er diskriminiert andere Schwule, hetzt gegen Araber im Besonderen und fühlt sich besser als Ausländer im Allgemeinen. Er kommt nicht so recht raus aus seinem Millieu, ist irgendwie eben doch Teil davon. Diese Spannung macht „Das Ende von Eddy“ nicht zu einem gefühlsduseligen Rückblick, sondern zu einem sehr lesenswerten Roman.
Gewidmet ist das Buch übrigens Didier Eribon, dessen Buch „Rückkehr nach Reims“ ich euch auch sehr empfehlen kann.
Weitere Empfehlungen für Bücher unter 200 Seiten: Realitätsgewitter von Julia Zange // Ein ganzes Leben von Robert Seethaler // Nachts von Mercedes Lauenstein // Blauschmuck von Katharina Winkler // Knapp über 200 Seiten aber dennoch hier sehr erwähnenswert: Wurfschatten von Simone Lappert
Welche Bücher unter 200 Seiten könnt ihr empfehlen?